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"Wir müssen jungen Menschen Räume für Austausch und Engagement bieten."

16.07.2024

Die Europawahl im Juni hat für zivilgesellschaftliche Europa-Akteur*innen in Berlin die Monate davor bestimmt. Zahlreiche Aktivitäten wurden durchgeführt, um für die Wahl, die EU und europapolitische Themen zu mobilisieren. Jetzt, da Europa ein neues Parlament gewählt hat, beginnen die Planungen für kommende Aktionen. Um als zivilgesellschaftliche Akteur*innen voneinander zu lernen und gemeinsam zu wirken, haben wir für den Europa HUB Berlin mit Etienne und Teresa von Polis 180 zu ihrem Blick auf die Wahlergebnisse, ihre Erkenntnisse aus den Aktivitäten vor der Wahl und die Planungen für die nächsten Monate gesprochen.

Die Ergebnisse der Europawahl sind für pro-europäische Akteur*innen erstmal nicht besonders ermutigend. Es gab zwar eine höhere Wahlbeteiligung, aber besonders rechtspopulistische und europafeindliche Parteien haben an Zuspruch gewonnen. Was bedeuten die Ergebnisse für euch und eure Arbeit?

Etienne: Die Wahlergebnisse waren für uns erstmal ein Schock, da viele Menschen in Deutschland und Europa anti-europäische Parteien gewählt haben, darunter auch viele junge Menschen. Unsere Herausforderung besteht jetzt darin, nicht nur parteipolitische Diskussionen zu führen, sondern jungen Menschen Räume für Austausch und Engagement zu bieten. Angesichts der vielen Krisen, die besonders die junge Generation betreffen, und dem mangelnden Vertrauen in die Lösungskompetenz der EU aktuell, ist es wichtig, Brücken zu bauen und diese Unzufriedenheit in konstruktives Engagement zu übertragen.

Teresa: Die Ergebnisse der Europawahl zeigen, dass junge Menschen ein breites Spektrum an Parteien gewählt haben, zum Beispiel die Volt-Partei, die bei ihnen besonders erfolgreich war. Es stört mich, dass in den Medien oft gesagt wird, die jungen Menschen hätten besonders rechts gewählt, obwohl ihre Wahlentscheidungen eigentlich dem gesellschaftlichen Durchschnitt entsprechen. Trotzdem beschäftigen uns die steigenden Stimmanteile für rechtspopulistische und -extreme Parteien in ganz Europa sehr. Für uns bei Polis180 ist es wichtiger denn je, junge Menschen zu ermächtigen, sich in der Außen- und Europapolitik zu engagieren. Die Ergebnisse unterstreichen das starke Bedürfnis junger Menschen, sich politisch zu beteiligen. Daher setzen wir unsere Arbeit fort, Menschen für europapolitische Fragen zu sensibilisieren und unsere Rolle als parteipolitisch unabhängiger Verein zu stärken.

Schauen wir nochmal gemeinsam zurück: Welche Aktionen habt ihr vor der Wahl in Berlin organisiert? Welche Erkenntnisse habt ihr daraus gesammelt und könnt ihr weitergeben?

Etienne: Dieses Jahr hatten wir unsere Europa-Kampagne unter dem Titel „Discuss, rethink, envision – Europe at the Grassroots“, die verschiedene Graswurzelaktionen umfasste. Unsere beiden Flagship-Projekte waren „Europa Kocht“ und der „Euromat“.

„Europa Kocht“ ähnelt unserem Kernformat „Polis kocht!“. Bei dem Format geht es darum, mit Menschen, die sich nicht kennen, und mit Expert*innen gemeinsam zu kochen und dabei über europapolitische Themen zu diskutieren. Beim Zwiebel-Schneiden werden schnell Berührungspunkte geschaffen und offener Austausch erleichtert.

Der Euromat ist ein gesamteuropäisches Wahltool, das wir gemeinsam mit Pulse of Europe und Der europäische Föderalist entwickelt haben. Treffpunkt Europa hat uns mit Übersetzungen unterstützt. Es funktioniert ähnlich wie der Wahl-O-Mat, aber bildet im Unterschied die europäischen Parteifamilien im europäischen Parlament ab. Dadurch wird eine vergleichbare Entscheidungshilfe geboten, unabhängig davon, ob man in Finnland, Rumänien oder Deutschland lebt

Wir haben festgestellt, dass solche niedrigschwelligen und interaktiven Formate sehr gut angenommen werden. Besonders der „Euromat“ ist ein großer Erfolg, da er dieses Jahr erstmalig in acht verschiedenen  Sprachen verfügbar ist und somit auch Bürger*innen aus anderen EU-Ländern, die in Deutschland leben, einbezieht.

Teresa: Beim Euromat ist noch besonders hervorzuheben, dass es nicht nur ein Projekt von einer Organisation ist, sondern aus dem Zusammenschluss von mehreren zivilgesellschaftlichen Organisationen entstanden ist. Dieses Jahr hatten wir uns vorgenommen, die Zusammenarbeit in Berlin und Deutschland noch weiter zu stärken, was ja auch der Idee des Europa HUBs entspricht und durch den Austausch auf den Veranstaltungen des HUBs gefördert wurde.

Narrative zu Europa wurden in sämtlichen Aktionen vor der Wahl eingesetzt, um die Bedeutung der EU zu vermitteln und für die Wahl zu mobilisieren. Welche Botschaften und Formate habt ihr für die Mobilisierung?

Teresa: In dieser krisenbehafteten Zeit wollten wir ein positives Zukunftsbild vermitteln, um das Gefühl der Machtlosigkeit zu überwinden. Mit unserer Kampagne zu Europa-Visionen wollten wir zeigen, dass es sich lohnt, sich für eine bessere Zukunft einzusetzen.

Etienne: Dabei ist zentral für uns, dass wir eine proeuropäische Haltung vertreten, aber gleichzeitig die EU kritisch reflektieren müssen. Beispielsweise haben wir Veranstaltungen zur Rechtsstaatlichkeit in Ungarn durchgeführt und dabei deutlich gemacht, dass die aktuelle Politik der EU in diesem Bereich nicht ausreichend ist. Es ist wichtig, glaubwürdig zu sein und anzuerkennen, dass nicht alles perfekt läuft. Ansonsten sehen wir uns als Thinktank in der Rolle der Ideengeber, um zusammen mit unserer Zielgruppe Ideen und Visionen zu entwickeln und nicht eine fertige Botschaft in die Welt zu senden.

Was gibt euch Zuversicht mit Blick auf Europa und was muss jetzt in Berlin passieren?

Teresa: Ich bekomme Hoffnung, wenn wir über aktuelle politische Ereignisse hinausblicken können. Obwohl unsere Zeit krisenbehaftet ist, haben auch frühere Generationen Krisen bewältigt. Es ist wichtig, nicht in Katastrophenszenarien zu verfallen. Gleichzeitig leben wir in gefährlichen Zeiten, wie die Wahlergebnisse in Frankreich, den Niederlanden und Ungarn zeigen. Aber es gibt auch positive Entwicklungen, wie in Polen, wo die Menschen erkannt haben, dass populistische Parteien nicht die Lösung sind.

Etienne: Mir gibt Zuversicht, dass es viele engagierte Bürger*innen und Organisationen gibt, die sich für ein besseres Europa einsetzen. Es ist wichtig, dass wir weiterhin Räume für Engagement schaffen und Ideen einbringen. Berlin spielt dabei eine besondere Rolle als Brücke zwischen West- und Mitteleuropa, und diese Funktion könnte zukünftig noch stärker genutzt werden.

Welche kommenden Aktionen plant ihr jetzt nach der Europawahl und wie können Andere bei euch mitwirken?

Etienne: Wir haben gerade ein neues Programm namens „(Un-) Making Democracy“ gestartet. Hier wollen wir einen offenen Raum zum Austausch und Lernen mit Aktivist*innen aus ganz Europa und darüber hinaus schaffen, in dem Erfahrungen mit der Erosion demokratischer Strukturen diskutiert werden können, aber auch Ideen zur Förderung demokratischer Prinzipien. Zusätzlich planen wir eine Europakonferenz im Herbst, bei der Grassroots-Perspektiven aus Berlin und der gesamten EU zusammenkommen sollen. Da möchten wir die Berliner Zivilgesellschaft auch sehr gerne einbinden. Außerdem gibt es gerade noch einen Call for Papers für Visionen zu Europa. Unter dem Motto „Summer of Europe“ sammeln wir Grassroots-Perspektiven auf aktuelle EU-Themen, die für die nächste Legislatur interessant sind und mehr Aufmerksamkeit verdienen.

Vielen Dank für eure Einblicke und die inspirierende Arbeit, die ihr leistet. Gibt es noch etwas, das ihr teilen möchtet?

Teresa: Ich denke, es ist entscheidend, dass wir als zivilgesellschaftliche Akteur*innen unsere Kräfte bündeln und koordiniert vorgehen. Vor der Europawahl haben wir uns mit anderen Organisationen in Berlin abgestimmt, um unsere Stärken zu nutzen und Aufgaben zu verteilen. Diese Zusammenarbeit hat sich bewährt und zeigt, dass wir gemeinsam mehr erreichen können als allein. Das möchten wir auch in Zukunft weiterverfolgen.